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10-NOV-2016
Das sollst du essen! Orientierung versus Bevormundung
Zur Begrüßung leitet Friedhelm Dornseifer, Vorstandsmitglied von DIE LEBENSMITTELWIRTSCHAFT, in das Thema ein und hebt die anstehenden Herausforderungen für die Lebensmittelbranche hervor. „Im Jahr 2050 werden weltweit 9 Milliarden Menschen leben und es werden 60% mehr Lebensmittel notwendig sein.“ Neben Lebensmittelinnovationen seien auch Veränderungen der Essgewohnheiten erforderlich. Nudging könne einen Beitrag hierzu leisten.
In seinem Vortrag über die rasante Transformation der Lebensmittelbranchen in den wachsenden Märkten in Asien, Afrika und Lateinamerika illustriert Professor Tom Reardon von der University of Michigan die anstehenden Herausforderungen, unterstreicht aber auch die Chancen der Urbanisierung in diesen Regionen. „Allein in der indischen Metropolregion Delhi und ihrem Einzugsgebiet leben 30 bis 40 Millionen Menschen. Das ist ein wachsender Markt so groß wie Frankreich auf einer deutlich kleineren Fläche.“
Sein Kollege Professor David Zilberman von der University of California, Berkeley, ruft zur nüchternen Betrachtung des Konzeptes des Nudgings auf. Es sei ein neutrales und limitiertes Instrument, welches sinnvoll genutzt werden könne. „However, you cannot force people to change, you need to respect their freedom of choice.“
Der Frage „Ist Nudging harmlos?“ nachgehend, hält der Spiegel-Journalist Alexander Neubacher einen bewusst kritischen und polarisierenden Vortrag. „Das Menschenbild, welches dem Nudging zu Grunde liegt – nämlich der eines unmündigen, irrational handelnden Menschen – bereitet mir große Sorgen.“ Der Vortrag löst eine hitzige Debatte auf Twitter unter dem Hashtag #LMWnudge aus.
Im Gegensatz dazu warnt der ehemalige Bundesrichter Wolfgang Neskovic vor verfrühtem Alarmismus und liefert eine juristische Perspektive auf das Thema. Das Grundgesetz schütze die Bürger vor unberechtigten Eingriffen in die Entscheidungsfreiheit. „Eingriffe sind nur dann verfassungsmäßig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage stehen.“ Dies gelte auch für das Nudging, das jedoch bislang kaum als politisches Instrument aufgetreten sei. Daher sei „entspannte Wachsamkeit“ geboten.
Für Professor Sean B. Cash von der Tufts University sind Nudges eines von vielen Instrumenten der politischen Intervention, die im Falle von Marktversagen eingesetzt werden können.
Die Perspektive der Bundesregierung liefert die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Maria Flachsbart. „Warum sollten wir Nudging prinzipiell nicht nutzen?“, fragt sie und unterstreicht die Gemeinwohlkomponente der Gesundheit eines individuellen Bürgers. Aber ob man abends auf der Couch Cola und Chips konsumiere oder nicht, sei die freie und private Entscheidung von jedem Einzelnen.
Im Anschluss stellt Professor Peter Kenning die Ergebnisse der Studie „Das sollst Du essen! Orientierung versus Bevormundung“ vor. Aus der Studie gehe hervor, dass rund 77 Prozent der deutschen Verbraucher es ablehnen, dass der Staat über ihren Kopf hinweg entscheidet, was gesund ist und was nicht. Rund 80 Prozent legen Wert darauf, dass sie ihre Entscheidung über den Lebensmitteleinkauf selbstbestimmt treffen. Die Verbraucher wollen zwar informiert werden, sobald allerdings die Eingriffstiefe in die Verbraucherentscheidung durch den Staat steigt, erhöht sich auch die Wahrnehmung der Bevormundung auf 40 bis 60 Prozent.
Die europäische Perspektive liefert Professor Lucia Reisch von der Copenhagen Business School. „Nudging ist ein Instrument, welches per se weder positiv noch negativ ist.“ Es könne Menschen da unterstützen, wo sie es benötigen und verlangen. In ihrem Vortrag geht sie auf einige Projekte der Europäischen Union zu Nudging ein und stellt diese vor.
Einen erfrischend praktischen Beitrag leisten Andreas Bohner und Jürgen Sieg von dem Unternehmen „Rettenmeier & Söhne“. In ihrem Vortrag über innovative Lebensmittelprodukte geben sie einen Einblick in die Zukunft der individuell gestalteten Lebensmittel. Mit praktischen Beispielen führen sie aus, wie die Herausforderung der wachsenden globalen Nachfrage nach Lebensmittel gedeckt werden kann.
In seinem abschließenden Vortrag betont Professor Justus Wesseler von der Universität Wageningen, dass wohlüberlegtes Nudging durchaus sinnvoll und hilfreich sein kann. „Entscheidend ist, dass man die Ziele, die man mit Nudges erreichen möchte, klar definiert und eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse durchführt.“
„Wir haben eine grandiose Achterbahnfahrt durch das Thema des Nudgings gemacht und immer wieder neue Dinge entdeckt“, resümiert Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer von DIE LEBENSMITTELWIRTSCHAFT, das Symposium. Es sei notwendig, dass zu diesem Thema viel mehr geforscht werde.
Im April 2017 wird die University of California, Berkeley, im Rahmen des internationalen „Executive Programs“ Gastgeber des nächsten gemeinsamen Lebensmittel-Symposiums in Berkeley sein.